
Die japanische Schriftstellerin Sayaka Murata gilt als eine der außergewöhnlichsten Stimmen der modernen Literatur. Ihre Werke sind schrill, verstörend, tiefgründig – und wirken manchmal so, als stammten sie von einem anderen Planeten. Nicht selten wird Murata nachgesagt, sie „lebe auf ihrem eigenen Planeten“. Doch was bedeutet das eigentlich?
Eine ungewöhnliche Perspektive auf die Welt
Murata hat sich nie dem gesellschaftlichen Mainstream angepasst – weder im Leben noch im Schreiben. Sie arbeitete über 18 Jahre lang in einem Konbini (japanischer Mini-Supermarkt), auch nachdem sie bereits literarische Auszeichnungen gewonnen hatte. Für viele war das unverständlich, für Murata jedoch war es eine bewusste Entscheidung. Der Alltag im Konbini, die Beobachtung menschlicher Routinen und die absurde Normalität dieser Welt – all das diente ihr als Inspiration.
In ihrem bekanntesten Roman „Die Ladenhüterin“ (Konbini Ningen) erzählt sie die Geschichte einer Frau, die sich vollkommen dem Leben als Supermarktangestellte hingibt und nicht versteht, warum andere sie als „unnormal“ empfinden. Die Protagonistin wirkt emotionslos, fast maschinenhaft – doch genau darin liegt Muratas Kritik an den starren gesellschaftlichen Erwartungen.
Gesellschaftliche Normen unter dem Mikroskop
Murata stellt in ihren Büchern immer wieder radikale Fragen: Was bedeutet es, ein „normales“ Leben zu führen? Warum müssen Menschen heiraten, Kinder bekommen oder Karriere machen, um als vollständig zu gelten? Warum empfinden wir Abweichung als bedrohlich?
In Romanen wie „Das Seidenraupenzimmer“ oder „Das Seelenhaus“ geht sie noch weiter – dort entwirft sie ganze alternative Gesellschaften mit eigenen Regeln, Moralvorstellungen und Lebensformen. Diese dystopischen Welten sind oft bizarr, wirken aber wie Spiegelbilder unserer eigenen Realität, nur leicht verschoben.
Literatur aus einer anderen Umlaufbahn
Muratas Stil ist klar, schnörkellos und dabei oft schockierend. Sie schreibt über Sexualität, Gewalt, Körper und Konformitätsdruck – jedoch nicht, um zu provozieren, sondern um zu hinterfragen. Ihre Figuren sind selten sympathisch im klassischen Sinn, aber sie zwingen uns dazu, unsere eigene Normalität zu überdenken.
Gerade deshalb wirkt es, als ob Murata „auf ihrem eigenen Planeten“ lebt. Sie denkt anders, fühlt anders, schreibt anders – und genau das macht sie zu einer der wichtigsten Autorinnen unserer Zeit.
Sayaka Murata steht nicht außerhalb der Gesellschaft – sie seziert sie. Mit einem Blick, der so scharf wie fremdartig ist, zeigt sie uns, wie absurd unsere vermeintliche Normalität manchmal sein kann. Wer sich auf ihre Werke einlässt, begibt sich auf eine Reise in eine Welt, die uns zunächst fremd erscheint – und dabei erschreckend vertraut ist. Vielleicht lebt Sayaka Murata also gar nicht auf einem anderen Planeten. Vielleicht sieht sie nur viel klarer, wie seltsam unser eigener manchmal ist.